Chaoskaddy
Wo ich bin herrscht Chaos
Wieso ich ein Semikolon-Tattoo habe

Ich hätte nie gedacht, dass ein einfaches Satzzeichen für mich einmal eine so große Bedeutung und vor allem Wichtigkeit für mich hat. Ich hatte es bis zu einem bestimmten Alter nicht einmal auf dem Schirm. Dann entdeckte ich, dass man mithilfe von HTML seine eigene Seite gestalten kann. Und ja, ich bin wirklich so alt, damals gab es wirklich noch keinen Anbieter, der einem half, via Drag-and-drop seine eigene Website zusammen zu setzen; von Blogs ganz zu schweigen.
Es dauerte noch einmal ein paar Jahre, dass auch andere dieses Satzzeichen nutzen; doch in einer komplett anderen Situation und Bedeutung. 2013 gründete Amy Bleuel die nicht gewinnorientierte Organisation „Projekt Semicolon“. Es sollte Aufmerksamkeit schaffen für Menschen mit psychischen Krankheiten und deren Folgen. 10 Jahre vor dieser Gründung begang ihr Vater Selbstmord. All diese wusste ich nicht, als ich mein Tattoo 2024 machen ließ. Ja, ich wusste, dass es ein Zusammenhang mit Suizid bestand. Doch genaue Umstände waren mir bis vor kurzem unbekannt.
Wie ihr wisst, habe ich seit einigen Jahren mit Depressionen zu kämpfen. Einige würden sagen: Nach so vielen Jahren hat die Depression mit mir zu kämpfen. Es kommt auf das Selbe heraus: Zwei teile in mir kämpfen gegeneinander. Und auch ich stand einmal vor der Entscheidung. Doch all das war vor meiner Zeit, als ich um die Bedeutung des Satzzeichens in Programmiersprachen oder in der Psychologie wusste.
Wir machen einen Sprung weit zurück. Ich meine ich war 16 Jahre alt. Von meinem Vater erfuhr ich viel Schläge, von meiner Mutter wenig Verständnis. Ich war immer das schwierige Kind, hatte die falschen Freunde und machte nur Unsinn; zumindest in den Augen meiner Eltern. Dabei versuchte ich nur, in einer Welt zu überleben, die mich scheinbar nicht wollte. Doch ich musste mich nur besser anstrengen, dann klappte das schon. Das kannte ich unter anderem von Elternsprechtagen: Ihre Tochter ist nicht dumm, nur faul. Ich wurde in der Schule gemobbt, ich war das dicke Kind ohne Selbstvertrauen. Und doch erlaubte ich es mir, für Schwache einzuspringen. Ich hatte drei Regeln in meiner Kindheit gelernt:
- Wenn jemand schwächer war, als der Angreifer, dann greift man ein.
- Wenn jemand am Boden lag, hörte man auf.
- Achte, wer hinter Dir läuft
Obwohl ich mich wirklich anstrengte, dazu zu gehören und mich anzupassen, passte ich nie wirklich in die Gemeinschaften, in die mich das Leben brachte. Ich fühlte mich nie wirklich irgendwo Zuhause. Eher im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Letztendlich war der innere Druck zu groß. Der Druck, wie ich heute weiß, ich selbst zu sein und mich gegen die auferlegten Werte, Normen und Verhaltensweisen zu wehren. Doch ich wusste nicht wie. Vertrauen zu meinen Eltern hatte ich keins. Sätze wie „Nun stell Dich nicht an! Das Leben ist kein Ponyhof!“, „Was willst Du noch? Du hast Essen, ein Bett über den Kopf. Anderen geht es viel schlechter als Dir.“ oder „Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt, sie dreht sich nicht nur um Dich!“ waren mehr oder weniger an der Tagesordnung, dicht gefolgt von „Wieso weinst Du schon wieder? Ich hebe Dir gleich einen Grund zum Weinen!“. Dazu das Mobbing in der Schule und im privaten Bereich. Ich wusste kaum mehr wohin.
Irgendwann war der Druck zu groß und ich fing an, mich selbst zu verletzten. Ich achtete lange darauf, dass man es nicht sah, wählte Oberschenkelinnenseiten. Dann wurde ich unvorsichtig, oder wollte ich vielleicht, dass es endlich auffiel? Ich schnitt mir ein A aufs Knie. Ich kann mich genau daran erinnern, welche Entspannung ich danach immer verspürte. Ich achtete tunlichst genau darauf, dass die Stellen nicht zu sehr bluteten und doch tief genug waren, um meinen Schmerz raus zu lassen, fühlen zu können. Dann sah eines Abends meine Mutter das A. Ich weiß nicht mehr, ob ich es sagte oder sie den Namen vorher gehört hatte. Auf jeden Fall dachte sie, ich würde mich für einen Jungen verletzten. Dabei stand das A für dieses anders sein. Doch ich bekam Angst, denn sie sagte damals so etwas wie: Willst Du weggeschlossen werden? Willst Du das? Willst Du, dass man Dich für verrückt hält? Willst Du in die Klappse?“ Mit meinem heutigen Wissen würde ich sagen: Ja verdammt! Holt mich ab von einem Vater, der seine eigenen Kinder schlägt und von meiner Mutter, die es warum auch immer nicht schafft, diesen Menschen zu verlassen!“ Doch das tat ich damals nicht, ich hatte zu viel Angst. Doch der Wunsch, von „hier“ weg zu kommen war geboren. Ich wusste aber auch, dass ich von keiner Seite Unterstzützung erwartren konnte.
Doch in meiner Parallelklasse gab es einen Suizid. Ich wusste über das Thema nicht viel und fing an, mich zu informieren; ich war eh damals gerne in der Stadtbücherei. Genauere Details verschweige ich euch. Ich kann nur so viel sagen: Es hätte nicht geklappt. Auf jeden Fall saß ich dann auf meinem Bett, hatte wieder eine Woche Horror überlebt und nun stand ein Wochenende vor der Türe, an dem mein Vater frei hatte. Das würde viel Stress und „laufen auf Eierschalen“ bedeuten für mich. Meine Eltern waren nicht da, mein Bruder schlief noch oder war ebenso nicht anwesend. Und dann dachte ich genau nach. Was ist, wenn es nicht klappen würde? Ich würde Schläge von meinem Vater kassieren und entweder Silent-Treatment oder stundenlange Diskussionen ohne eine Lösung von meiner Mutter. Und mir war klar: Nicht einmal dazu war ich imstande. Nicht, dass ich es nicht machen wollte, ich würde auch das nicht richtig gemacht haben; wie so vieles in meinem Leben. Also hielt ich es weiter aus.
Ich habe also mein Leben weiter gelebt und all das Erlebte unterdrückt. Denn das machte man so in meiner Familie. Man unterdrückte, es wurde verdrängt und man lebte nach Außen das Leben einer heilen Familie. Zwei Jahre später konnte ich ausziehen, dass es der Wechsel der Protagonisten mit der gleichen Mentalität, nur in einer Person war, konnte mein Teenager-Ich ja nicht wissen.
Über das Project; erfuhr ich ansatzweise erst als Erwachsene. Und mir war sofort klar, ich will so ein Tattoo. Doch es sollten Jahre der finanziellen Entbehrung folgen, in denen ich mir das Tattoo zwar nicht leisen konnte, ich es aber nicht aufgegeben habe. Inzwischen, mit 44 Jahren habe ich es endlich. Mein Teenager-Ich und ich freuen uns jeden Morgen aufs Neue, wenn wir es sehen. Und immer wenn mich jemand anspricht: „Aber das ist auf Deinem Unterarm, Du schaust da immer drauf!“ Ja genau, Hildegard, das ist der Punkt beziehungsweise das Semikolon. Über den inneren Wortwitz grinse ich dann jedes Mal und nicke einfach nur. Und in meiner aktuellen Zeit von Diagnose F43.1 und T74.2 bin ich mehr und mehr froh, dieses Tattoo zu haben. Schlagen Flashbacks wieder zu, hilft mir oft der Blick auf das Tattoo im Hier und Jetzt zu bleiben.
Warum ich all das schreibe? Ich weiß es gar nicht so genau. Vielleicht muss langsam aber sicher all das raus. es bricht sich sowieso immer wieder nach oben, sei es durch Flashbacks oder Albträume.
Oktober 25, 2024 Freitag at 11:41 am